„Da vorne ist noch eine Lücke, alle aufrücken!“
ruft jemand durchs Megafon. Rucksäcke werden geschultert, Fahrräder geschoben – die rot gekleideten Menschen schließen auf und reichen sich die Hände. „Die Rote Linie steht!“, schallt es wenig später durch die Waldschneise. Viele der rund 3000 Demonstranten fallen sich in die Arme und jubeln, andere singen und tanzen. „Bis hierhin und nicht weiter“, so ihre Botschaft an die Politik: Die Braunkohle muss im Boden bleiben.
Die zwei Kilometer lange Menschenkette, zu der Greenpeace, BUND, Nabu und Klima-Allianz aufgerufen haben, zieht sich auf der alten Trasse der Autobahn A4, die dem geplanten Braunkohleabbau weichen musste, durch den Hambacher Forst. Die Abbruchkante des Tagebaus Hambach ist nur noch 300 Meter entfernt, Stück für Stück fressen sich die riesigen Bagger des Energiekonzerns RWE vor. Sie schaufeln Gruben, die bis zu 370 Meter tief sind und so groß, dass halb Bonn darin verschwinden würde. Mehr als zehn Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen produziert RWE im Rheinischen Braunkohlerevier: Hier wird der Klimawandel gemacht.
„Wir brauchen dringend ein Kohleausstiegsgesetz, damit spätestens im Jahr 2030 keine weitere Braunkohle mehr verfeuert wird“, sagt Susanne Neubronner, Energieexpertin von Greenpeace.
„Wenn wir das 1,5-Grad-Ziel von Paris einhalten wollen, müssen wir dieses Umweltverbrechen stoppen. Genau hier muss Schluss sein.“
Rund 6000 Menschen sind an diesen letzten Augusttagen ins Rheinland gekommen. Sie alle wollen nicht mehr hinnehmen, dass die Zukunft des Planeten verspielt wird, und vertrauen nicht darauf, dass die Politik den Klimawandel in den Griff bekommt – so steuert Deutschland fahrlässig aufs Scheitern seiner Klimaziele für 2020 zu. Deshalb gehen sie dorthin, wo der Schaden angerichtet wird, und üben im Braunkohlerevier direkt Druck auf Regierung und Industrie aus.
Das Herz des Widerstandes gegen die Kohleförderung bildet das internationale „Klimacamp“ am nördlichen Rand der Kraterlandschaft. Gerade kommt ein Bus mit Aktivisten aus den Niederlanden an, der mit Applaus empfangen wird. „What do we want?“, ruft einer aus der Gruppe. „Climate justice“, antworten die Kohlegegner im Chor, Klimagerechtigkeit! „When do we want it?“, fragen sie als nächstes. „Now!“, brüllt es zurück. Rund 2500 junge Menschen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern zelten auf einer Wiese unweit des Tagebaus Garzweiler. Kulturveranstaltungen, Workshops und Aktionen begleiten die Proteste. Dabei weiß die Bewegung die Bevölkerung hinter sich: Fast zwei Drittel der Deutschen befürworten laut einer Emnid-Umfrage den baldigen Kohleausstieg.
Gewaltfrei und kreativ
Seit Jahren wächst die Klimaschutzbewegung stetig. Immer neue Gruppierungen gesellen sich hinzu, die alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das gemeinsame Ziel verfolgen: den Klimawandel stoppen. Sie finden: Zivilgesellschaftlicher Protest ist dort notwendig, wo die Regierungen – trotz des inzwischen erreichten Abkommens von Paris – die konsequente Klimaschutzwende weiterhin hinauszögern.
Gipfel der Hoffnung
2015 einigten sich die Staaten in Paris darauf, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Viele Länder – auch Deutschland – tun aber viel zu wenig für die CO2-Reduktion.
Wimpel für Pödelwitz
Erfolgreiche Solidaritätsaktion: Greenpeace-Förderer haben mehr als 1000 Wimpel für Pödelwitz gestaltet. Das Dorf in der Lausitz ist durch den Braunkohleabbau vom Abriss bedroht.
Teil der Bewegung sind natürlich auch Umweltverbände wie Greenpeace, die sich seit vielen Jahren für Klimaschutz und die Energiewende stark und gegen den Klimakiller Kohle mobil machen. Zum Beispiel mit der grenzüberschreitenden Anti-Kohle-Menschenkette in der Lausitz 2014, an der mehr als 7500 Menschen teilnahmen. Mit Unterstützungsaktionen für von der Abbaggerung bedrohte Dörfer wie Proschim oder Pödelwitz. Mit Studien, Klagen und mit Protesten bei den Weltklimakonferenzen. Ganz gleich, ob Greenpeace-Aktivisten an den „Tatorten“ oder in Sichtweite der Staatsoberhäupter demonstrieren und ihr Grundrecht der freien Meinungsäußerung wahrnehmen: Ihre Proteste bleiben stets kreativ und gewaltfrei.
Bei den Klimacamps, die jedes Jahr in der Lausitz und im Rheinland stattfinden, vernetzen sich Teilnehmer und Initiativen, planen Aktionen, schmieden neue Bündnisse – mit wachstumskritischen oder lokalen Gruppen – und diskutieren über den sozial-ökologischen Strukturwandel, neue Wirtschaftsmodelle oder alternative Lebensstile. Erstmals finden nun Gespräche mit Gewerkschaftern statt.
Die Kohle ist am Ende
Denn auch sie wissen, dass ein „Weiter so“ bei der Kohleförderung mit den Klimaschutzzielen nicht vereinbar ist – und dass für die Reviere dringend neue Perspektiven nötig sind. Auch wirtschaftlich steht die Braunkohleindustrie mit dem Rücken zur Wand, denn Deutschland braucht wegen des Erfolgs der Erneuerbaren Energien zur Deckung seines Strombedarfs immer weniger Braunkohle – und exportiert seit Jahren in großem Stil überschüssigen Strom. Die Kritik an der Politik, die dies zulässt, wird immer lauter, nicht nur wegen der enormen Emissionen von CO2, Feinstaub und Quecksilber, die aus den Kraftwerksschloten quellen, sondern auch, weil für das Abbaggern ganzer Dörfer und Landschaften jede Rechtfertigung abhanden gekommen ist.
„Die lokale Presse hat infolge des G20-Gipfels viele Ängste geschürt. Man hätte meinen können, da kommen lauter Ökoterroristen.“
Antje Grothus lebt seit mehr als 20 Jahren in Buir, einem Dorf unweit des Tagebaus Hambach. Seit bekannt wurde, dass die A4 wegen der Braunkohlegrube verlegt und sechsspurig an ihrem Dorf vorbeiführen soll, stemmt sich die 53-Jährige mit ihrer Bürgerinitiative „Buirer für Buir“ gegen die Kohle. „Ich lasse manchmal Aktivisten aus dem Hambacher Wald bei mir duschen“, erzählt sie. „Deshalb beschimpfen mich manche Leute in Emails.“ Der Konflikt spalte Dörfer und Familien. Doch Grothus lässt sich nicht bange machen – auch nicht von populistischer Hetze, wie sie es nennt. „Nach dem G20-Gipfel in Hamburg hat die lokale Presse viele Ängste geschürt – als kämen lauter Ökoterroristen zu uns.“ Während sie spricht, klopft ihr anerkennend ein Mann im roten T-Shirt auf die Schulter, ein Nachbar.
Im Oktober beginnt für Grothus die schlimmste Zeit. Bis Februar darf RWE den angrenzenden Hambacher Forst mit seinen teils uralten Bäumen abholzen: „Wenn Tag und Nacht die Kettensägen jaulen, tut mir das richtig weh.“
„Man darf die Hoffnung nicht aufgeben“
Bei der Abschlusskundgebung der Menschenkette in Manheim bläst Rico Walde von der Greenpeace-Gruppe Paderborn per Solar-Pumpe ein großes Schaufelrad auf. „Man darf die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt der 23-jährige Student. Ein kleiner Junge bleibt stehen und staunt; rot gekleidete Demonstranten ziehen mit ihren Fahnen und Stoppschildern vorbei. „Das ist der größte Protest gegen die Kohle, den das Rheinland je gesehen hat!“, ruft jemand von der Bühne. Rico Walde ist überzeugt, dass der Widerstand sich noch steigern lässt, zum Beispiel beim Klimagipfel im November in Bonn.