Interview

Über den Sinn des Gebens

Gehört das Wohlergehen anderer zu unseren tiefsten Bedürfnissen? Beschert uns Selbstlosigkeit sogar ein längeres Leben? Dazu sprachen wir mit dem Wissenschaftsautor Stefan Klein

Sind wir Menschen im Grunde altruistisch veranlagt?
Das kann man so nicht sagen. Wir alle sind keine Engel und auch nicht nur gut. Menschen tragen starke egoistische, aber eben auch altruistische Antriebe in sich, denn nicht nur Wettbewerb, sondern auch Kooperation ist eine Triebkraft der Evolution. Allerdings haben wir dieses tiefe Bedürfnis, zu helfen und großzügig zu sein, lange Zeit übersehen. Diese Blindheit hat uns in manche Sackgasse geführt, denken Sie nur an die weltweite Finanzkrise von 2008. Damals wurde klar, dass ein Wirtschaftssystem, das Egoismus als einzigen Antrieb menschlichen Handelns voraussetzt, nicht funktionieren kann.

Wie würden Sie altruistisches Handeln beschreiben?
Altruismus ist Handeln zum Vorteil von anderen, das ich mir etwas kosten lasse, etwa Zeit oder Geld. Wie die Neurobiologie anhand von Gehirnaktivitäten nachgewiesen hat, kann Altruismus angenehme Gefühle auslösen. Wer anderen Gutes tut, fühlt sich selbst auch wohl. Wir erleben eine ähnliche Wirkung wie beim Genuss von Schokolade oder bei gutem Sex. Noch dazu hält diese positive Stimmung viel länger an als beispielsweise ein Kick beim Shopping, der schnell wieder verflogen ist.

Steckt dieses tiefe Bedürfnis in unseren Genen?
Es wurde beobachtet, dass bei eineinhalbjährigen Kindern die Bereitschaft zu helfen spontan auftaucht. In einem Versuch steht zum Beispiel ein Mann mit einigen Aktenordnern vor einem geschlossenen Schrank. Er hat keine Hand frei und kann den Schrank nicht öffnen. Ein kleines Kind beobachtet die Szene, läuft zu ihm, macht beide Schranktüren auf, lächelt und freut sich, dass es helfen konnte. Solch selbstloses Verhalten zeigt sich in der frühen Kindheit unabhängig von Kultur oder Erziehung. Das spricht dafür, dass es genetisch in uns angelegt ist.

Nicht selten gelten selbstlose Menschen als die Dummen, die den Kürzeren ziehen. Wie bewerten Sie das?
Ja, da meldet sich unsere Angst. Wir wissen aber, dass Menschen, die sich für andere, für das Gemeinwohl oder auch die Umwelt engagieren, zufriedener und glücklicher sind. Außerdem sind sie gesünder – für andere zu sorgen, schützt vor Einsamkeit und Depression. Das zeigt sich sogar in der Lebenserwartung. Die Effekte sind so stark, dass die Forscher zunächst ihren eigenen epidemiologischen Untersuchungen misstrauten. Deshalb wurden die Studien mehrfach wiederholt. Und jedes Mal bestätigte sich: Wer sich für Belange anderer oder das Gemeinwohl einsetzt, lebt mehrere Jahre länger.

„Altruistisches Engagement ist der Kitt, der unsere ­Gesellschaft zusammenhält.“

Macht also nicht Geld, sondern Engagement glücklich?
Wer materiell abgesichert ist und einen gewissen Wohlstand erreicht hat, kann sein Wohlbefinden nicht mehr durch Geld steigern. Was die Zufriedenheit steigert, ist der Einsatz für andere Menschen – ganz gleich ob sie sich an der Nachbarschaftshilfe oder der freiwilligen Feuerwehr beteiligen, für einen alten Menschen einkaufen oder sich politisch engagieren. Gerade geht ja eine ganze Generation fürs Klima auf die Straße. All diese Menschen investieren viel Zeit und Kraft, um die Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen zu erhalten. Dieses ehrenamtliche und altruistische Engagement ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

Macht es einen Unterschied, ob die Früchte des eigenen Gebens weiter in der Zukunft geerntet werden können?
Wer Gutes tut, fühlt sich gut – egal, ob er oder sie in dem Moment dabei ist, wenn die Hilfe wirksam wird oder nicht. Was zählt, ist der Moment der Entscheidung.

Ist Altruismus ansteckend?
Auf jeden Fall. Mehr als die Hälfte der Menschen sind sogenannte bedingte Altruistinnen und Altruisten. Das heißt, ihnen fällt es leicht, selbstlos zu handeln, wenn sie erleben, dass andere fair und großzügig sind. Deshalb ist es hilfreich, gute Taten öffentlich zu machen.

Was ermuntert Menschen, sich altruistischer zu ­verhalten?
Zwei Faktoren: Einmal sind es die sozialen Normen. Je mehr ich davon ausgehe, dass sich auch andere fair verhalten, umso weniger muss ich befürchten, ausgenutzt zu werden. Umso leichter fällt es den Menschen, zu geben und zu helfen. Zum anderen spielt der Gewöhnungseffekt eine große Rolle: Je öfter ich merke, dass es mir und anderen guttut, wenn ich mich für andere einsetze, umso geringer ist meine Angst davor, ausgenutzt zu werden.

Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen kann Selbstlosigkeit gedeihen?
Wir müssen uns bewusst werden, dass wir mit dem altruistischen Bedürfnis eine ganz große Ressource besitzen, die wir zu unserem eigenen und zum Vorteil anderer nutzen sollten. Um diesen Wesenszug zu fördern, brauchen wir die gesellschaftliche Anerkennung und Belohnung: Es ist ganz wichtig, dass Menschen, die etwas für andere tun, als Vorbilder sichtbar und geschätzt werden. Entscheidend ist aber auch die Verteilungsgerechtigkeit: Je geringer die Unterschiede zwischen Arm und Reich und je größer die Bildungs- und Aufstiegschancen für alle sind, umso eher sind Menschen zu selbstlosem Einsatz bereit – ganz einfach, weil sie weniger fürchten müssen, im Wettbewerb zurückzufallen. Ebenfalls wichtig ist der Grad unserer Verbundenheit mit und der Empathie für Menschen, die wir gar nicht kennen, weil sie zum Beispiel am anderen Ende der Welt leben. Dahinter steckt die Erfahrung, dass Menschen in der globalisierten Welt alle aufeinander angewiesen sind. Finanz- und Klimakrise führen uns das deutlich vor Augen.

Was haben Sie persönlich aus der Beschäftigung mit diesem Thema gelernt?
Wer sich für andere einsetzt, lebt entspannter, angst- und stressfreier.

Stefan Klein,

geboren 1965 in München, ist Physiker, Philosoph und Wissenschaftsautor. Er hat zu großen Themen wie Glück, Zufall, Zeit, Träume, künstliche Intelligenz oder dem Einsatz von Kreativität zur Veränderung unserer Welt publiziert.