Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass Ökologie irgendwann einmal kein Thema war. In den frühen 1970er-Jahren gab es zwar ein paar Naturschutzgruppen, die sich um den Schutz von Parks kümmerten, aber eine Umweltbewegung existierte noch nicht. Das sollte sich bald ändern. Junge Leute, auch ich, lehnten traditionelle Vorstellungen wie materiellen Erfolg ab, wir wollten zu einem einfacheren Leben zurück – mit Biolandbau, Frieden und Menschenrechten. Viele, die sich diesen neuen, progressiven Bewegungen angeschlossen hatten, fühlten sich auch der Erde selbst verbunden.
Wie eine Umweltbewegung entsteht
In den 1950er-Jahren entstand als Folge des Zweiten Weltkriegs, als Reaktion auf die Atombombenabwürfe der USA auf Japan und das einsetzende atomare Wettrüsten eine sehr lebendige, weltweite Friedensbewegung. Die Öffentlichkeit hörte von neuen Begriffen wie „Fallout“ und „genetische Mutation“, und die Angst vor der nuklearen Vernichtung griff um sich. Im Osten der USA lebten zu der Zeit Irving und Dorothy Strasmich, die sich wie Millionen Menschen von der Atombombe bedroht fühlten. Dorothy hatte die erste Sozialarbeitergewerkschaft in Rhode Island gegründet und wurde dort später Vorsitzende der Gewerkschaft für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Irving war Anwalt und Jazzfan, und seine schwarzen Musikerfreunde luden ihn ein, der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) beizutreten. Als Dorothy und Irving 1953 heirateten, gab es einen Dinnerempfang im Hauptquartier der NAACP. Das Paar benannte sich um in „Stowe“ – nach der Quäkerin Harriet Beecher Stowe, die sich für Frauenrechte und die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hatte. 1966 zogen die Stowes aus Protest gegen den Vietnamkrieg nach Vancouver an der kanadischen Westküste. Sie führten Friedensmärsche zur US-Botschaft an, arbeiteten für die Rechte von Indigenen und mit der Frauen-Friedensorganisation Canadian Voice of Women for Peace. Zu ihrem neuen Freundeskreis gehörte Bob Hunter, Kolumnist der „Vancouver Sun“. Er schrieb damals schon über Ökologie, Bürgerrechte und die Friedensbewegung. 1962 hatte der damals 21-jährige Hunter Rachel Carsons Buch „Stummer Frühling“ gelesen. Er erkannte, wie zutreffend Carsons Aussage war: „In der Natur existiert nichts für sich allein“. Das änderte sein Weltbild: Es reichte also nicht, den Militarismus zu stoppen, wir müssen auch den Krieg gegen Natur und Umwelt beenden. Hunter war davon überzeugt, dass die nächste große Umwälzung in der Gesellschaft die ökologische Revolution sein würde. „Ökologie ist das Ding“, erklärte er seinen Freundinnen und Freunden in der Kneipe.
Er machte die Stowes mit dem Journalistenpaar Ben und Dorothy Metcalfe bekannt. Auch sie setzten sich mit ökologischen Themen auseinander. Als 1969 ein leitender Angestellter der Forstverwaltung nahe Vancouver Ben erklärte, Dreck und Gestank aus den Schornsteinen einer Zellstofffabrik müsse man – um des Wirtschaftswachstums willen – hinnehmen, mieteten Metcalfe und seine Frau kurzerhand auf eigene Kosten zwölf Plakatwände in Vancouver. Sie entwarfen ein Logo, das die Umwelt repräsentieren sollte: zwei Wellen, die sich zu einem spiralförmigen Geflecht vereinigten. „Wenn man für Firmen und Produkte werben kann“, sagte das Ehepaar, „dann kann man auch für Ideen werben.“ Auf den Plakatwänden stand:
Ökologie? Schlagen Sie’s nach!
Sie sind Teil davon.
Das war die Geburtsstunde der Ökobewegung in Vancouver.
Green Peace – Die Anfänge
Jim und Marie Bohlen waren nach Vancouver gezogen, um ihre Söhne Lance und Paul vor dem Kriegsdienst in Vietnam zu bewahren. Jim war mit der US-Marine in Japan gewesen, die Verwüstungen nach den Bombardements machten ihn zum Pazifisten. Marie war Naturillustratorin und Mitglied im Sierra Club, der ältesten und größten US-Naturschutzorganisation. Sie wurden enge Freunde der Stowes.
In einem Arbeiterviertel im Osten Vancouvers organisierte der 22-Jährige Bill Darnell eine „Ökologie-Karawane“, die auf Tour durch die Provinz ging. Ich selbst war einer von etwa 50.000 US-amerikanischen Kriegsdienstverweigerern und Gegnern des Vietnamkriegs, die zwischen 1965 und 1973 nach Kanada flüchteten. Bald machte ich Bekanntschaft mit Bob Hunter, den Metcalfes und den Stowes.
Ein Ereignis sollte uns alle zusammenbringen: Die USA hatten für Oktober 1971 einen Fünf-Megatonnen-Atomtest mit dem Codenamen „Cannikin“ angekündigt – auf der entlegenen Aleuten-Insel Amchitka im Golf von Alaska, 4000 Kilometer nordwestlich von Vancouver. Die Insel war eigentlich ein Naturschutzgebiet für rund 130 Seevogelarten. Ein Test hatte bereits auf der ganzen Insel Wildtiere getötet, und diesmal sollte die Bombe fünfmal stärker sein.
Bob Hunter schrieb in seiner Kolumne, dass die Explosion womöglich einen Tsunami auslösen könnte, der Westkanada überfluten würde. Für eine Demo an der amerikanisch-kanadischen Grenze malte er ein Plakat, auf dem stand: „DON’T MAKE A WAVE“ (Macht keine Welle). Irving Stowe schlug vor, eine Bürgerinitiative gegen die Bombe zu gründen. Zu den ersten Treffen kamen Hunter, Darnell, die Metcalfes, die Bohlens, Deeno Birmingham mit der Voice of Women und die Aktivisten Rod Marining und Paul Watson. Sie bildeten eine Ad-hoc-Gruppe, die sie „The Don’t Make a Wave Committee“ nannten.
Noch hatte die Gruppe allerdings keinen Plan. Eines Morgens beim Kaffee sagte Marie zu ihrem Mann: „Wir sollten einfach mit einem Boot nach Alaska fahren.“ Als am selben Tag ein Reporter der „Vancouver Sun“ anrief und fragte, was die neue Gruppe denn tun würde, um den Test zu stoppen, platze Bohlen einfach damit heraus: „Wir hoffen, dass wir mit einem Boot nach Amchitka segeln können, um uns der Bombe entgegenzustellen.“ Am nächsten Tag erschien die Geschichte in der Zeitung, und plötzlich hatte das Committee einen Plan. Die Gruppe überlegte, wie sie ein Boot und einen Kapitän finden könnten, der bereit war, die Reise zu wagen. Gegen Ende des Treffens machte Irving Stowe das V-Zeichen und sagte „Peace“. Bill Darnell antwortete leise: „Make it a green peace“ – mach einen grünen Frieden daraus.
Dieser Begriff „Green Peace“ blieb bei uns allen hängen, er verschmolz die Friedens- mit den Umweltbewegungen.
Das „Don’t Make a Wave Committee“ ließ sich als Non-Profit-Gruppe registrieren und im September 1971 einen Trawler namens „Phyllis Cormack“ auslaufen, der mit Zustimmung seines Kapitäns John Cormack für die Reise in „Greenpeace“ umgetauft wurde. Das erste Kampagnenschiff kam bekanntlich nicht bis Amchitka, aber die Reise verursachte so einen Aufruhr in Kanada, den USA und Europa, dass die USA alle geplanten Tests in Alaska absagten. Im Jahr darauf übernahmen Ben und Dorothy Metcalfe die Leitung der Organisation, die inzwischen offiziell Greenpeace hieß. Sie starteten eine ähnliche Kampagne gegen französische Atomtests im Südpazifik und heuerten dafür David McTaggart an, der sein Segelboot „Vega“ mit einer Greenpeace-Crew an Bord ins Test-gebiet steuerte. Nach drei Jahren Protest stellte Frankreich oberirdische Atomversuche 1974 ein.
Die Umweltengagierten in Vancouver hatten die größte Inspiration aller gesellschaftlichen Visionen entdeckt: Sie konnten gewinnen.
Alle fühlenden Lebewesen
Trotz der erfolgreichen Aktionen gegen Atomtests wollten einige von uns eine Kampagne ins Leben rufen, in der es direkt um den Schutz der Erde – der Natur selbst – gehen müsste, und darum, allem Leben eine Stimme zu verleihen.
Zu der Zeit hatte der neuseeländische Hirnforscher Dr. Paul Spong im Aquarium von Vancouver Experimente mit einem Schwertwal durchgeführt. Spong war überzeugt, dass die kognitiven Fähigkeiten von Orcinus orca sich zwar von denen des Menschen unterschieden, aber mit ihnen durchaus vergleichbar waren. Spong wusste, dass sowjetische und japanische Walfangflotten die Populationen der Meeressäuger dezimierten und der Atlantische Grauwal fast ausgestorben war. Er unterbreitete Greenpeace die Idee einer Kampagne, um die Wale zu retten. Plötzlich hatten wir unsere globale Ökologiekampagne. Menschen auf der ganzen Welt könnten sich mit Walen identifizieren und sie schützen. Die Atomtests waren an feste Orte gebunden, die Fangflotten dagegen ständig unterwegs. Wie sollten wir sie finden? Und wir würden Schiffe in voller Fahrt aufhalten müssen, was mit dem Trawler oder einem Segelboot wohl kaum zu schaffen war.
Schlauchboot wurde zur Ikone
Um das erste Problem zu lösen, spionierte Dr. Spong bei der Internationalen Walfangkommission (IWC) im norwegischen Sandefjord Walfangrouten aus. Für die Lösung des zweiten Problems kopierten wir das Vorgehen der französischen Soldaten, die 1973 McTaggarts „Vega“ geentert hatten. Sie hatten Schlauchboote eingesetzt, um das Greenpeace-Boot zu jagen und zu entern. „Das ist es“,sagte Hunter, als er Fotos davon sah. Das Schlauchboot wurde zur Ikone aller Greenpeace-Aktionen auf der Hohen See.
Im April 1975 starteten wir unsere erste globale Umweltaktion und fuhren los, um die Walfänger zu stören. Im Juni fingen wir die russische Flotte mit dem Fabrikschiff „Vostok“ ab, etwa fünfzig Seemeilen westlich der kalifornischen Küste, genau dort, wo sie laut Spongs Karten sein sollte. Wir stellten die Fangschiffe, machten Fotos und Filmaufnahmen, um das Aufeinandertreffen zu dokumentieren. Als die Aufnahmen eine Woche später weltweit über die Nachrichtenagenturen liefen, wurde Greenpeace international bekannt.
Von da an nahm die globale Umweltbewegung weiter Fahrt auf: Es folgten Kampagnen für die Rettung von Sattelrobben und anderen Meeressäugern, gegen die Verklappung von Giftmüll auf See und für den Schutz von Wäldern. Etwa zur selben Zeit entstand die Organisation Friends of the Earth, und innerhalb weniger Jahre gründeten sich überall auf der Welt Umweltgruppen. Endlich gab es eine globale Ökoaktionsbewegung.
1977 konnten die Kolleginnen Susi Newborn und Denise Bell in London durch Spenden das erste Greenpeace-Schiff kaufen, einen Trawler, die „Rainbow Warrior“. 1979 gründeten wir in Amsterdam Greenpeace International. Fünfzig Jahre, nachdem das erste Aktionsschiff von Vancouver in Richtung Alaska auslief, hat Greenpeace heute nationale und regionale Büros auf der ganzen Welt, auch in China, Indien und auf dem afrikanischen Kontinent. Der lange Kampf, um die Erde vor der ökologischen Katastrophe zu retten, er geht weiter.