Thilo Kraneis blättert in einem vergilbten Straßenatlas und fährt mit dem Finger über Orte der Leipziger Tieflandsbucht im Süden der sächsischen Metropole. Kraneis, Metallbauer, stämmig und groß, zeigt seine Vergangenheit. Große Teile davon existieren nur noch auf alten Karten wie dieser, auf Fotos und in seinem Kopf. Droßdorf, wo er vor 50 Jahren geboren wurde: gibt es nicht mehr. Die Schule in Peres, die Kirche in Heuersdorf, in der er später heiratete: alles weg. Und bald auch sein Hof in Pödelwitz?
Geht es nach der Mitteldeutschen Braunkohle AG, kurz MIBRAG, soll der kleine Ort mit seinen Bauernhöfen und der romanischen Kirche aus dem 13. Jahrhundert samt Friedhof verschwinden. 11,4 Millionen Tonnen Braunkohle liegen unter dem Dorf, das kaum fünf Gehminuten von der Abbruchkante des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain“ entfernt liegt. Die Menge reicht gerade einmal, um das nahegelegene Kohlekraftwerk Lippendorf ein Jahr lang zu befeuern. Und obwohl die Braunkohle unter Pödelwitz nicht zum Abbau freigegeben ist, hat die MIBRAG bereits einen Großteil der Häuser aufgekauft. Drei Viertel der einst 130 Bewohner haben das Angebot angenommen und sind in eine Neubausiedlung am Rand der Kleinstadt Groitzsch gezogen. In den verlassenen Häusern hat die MIBRAG Strom- und Wasserleitungen gekappt, bald könnten die ersten Gebäude abgerissen werden.
Gut zu wissen: Kohle
Greenpeace hat schon 2008 ein Kohleausstiegsgesetz gefordert, durch das Pariser Klimaabkommen drängt das Thema nun endlich auf die politische Agenda. Wann der Ausstieg tatsächlich kommt, darum wird heftig gerungen.
Deutschland ist Braunkohleweltmeister – in keinem Land der Welt wird mehr verbrannt. Dabei ist Braunkohle der Energieträger mit dem höchsten CO2-Ausstoß je erzeugter Kilowattstunde Strom. Rund ein Fünftel der bundesweiten CO2-Emissionen entsteht durch die Verbrennung von Braunkohle.
Aus den Kraftwerken gelangen Schadstoffe wie Feinstaub in die Luft, die Atemwegserkrankungen, Lungenkrebs oder Schlaganfälle auslösen können.
Doch die verbliebenen Bewohner, 33 Personen aus drei Generationen, die in acht Häusern wohnen, wehren sich dagegen. Sie wollen das Dorf in seiner historischen Rundlingsstruktur erhalten, als das, was es für sie ist: Ihre Heimat, das letzte Stück, das ihnen geblieben ist. Viele der Bewohner haben schon einmal Haus und Hof an den Tagebau verloren. Sie wissen, welche Anstrengung es bedeutet, sich ein neues Leben aufzubauen. Seit vier Generationen wird das Land um sie herum abgebaggert, hunderte Meter tief. Dörfer werden abgerissen, Menschen umgesiedelt. Zurück bleiben staubige Mondlandschaften.
Thilo Kraneis kam vor 34 Jahren nach Pödelwitz, als sein Heimatdorf verschwand. Er baute gemeinsam mit seinen Eltern den Hof auf, den sie bis heute zusammen bewohnen. Später übernahm der Sohn die Metallbauerei des Vaters. Die meisten Gartenzäune und Metalltore in der Region hat er gemacht. „Pödelwitz zu verlassen, alles aufzugeben, das kommt nicht in Frage“, sagt er.
Zusammen mit seinem Nachbarn Jens Hausner hat Kraneis eine Bürgerinitiative gegründet. Hausner, 51, ein ehemaliger Landwirt mit der Figur eines Gewichthebers, steht am Rand des Tagebaus und deutet in die Ferne. Dort wo jetzt die Kohlebagger stehen, ist er früher mit dem Trecker über Felder gefahren. Nun kämpft er um den 300 Jahre alten Hof seiner Familie – und um das Dorf.
„Wir werden bis in die höchsten Instanzen gehen, wenn es sein muss.“
2009, als die MIBRAG erstmals den Erhalt von Pödelwitz in Frage stellte, fing es an. Seitdem hat er Hunderte Seiten Dokumente und Gutachten gelesen, Anträge gestellt und Interviews gegeben. Er fährt zu Braunkohletagen nach Köln und zu Treffen der Klima-Allianz nach Berlin, vernetzt sich mit Umweltverbänden und Politikern. Er initiiert Anfragen im Landtag und bereitet sich auf die juristische Auseinandersetzung mit der MIBRAG vor. Vertreter des Unternehmens seien immer wieder auf ihn zugekommen, erzählt er, aber er habe sie jedes Mal abblitzen lassen. „Mit denen haben wir nichts zu verhandeln.“ Er tritt gegenüber den MIBRAG-Verantwortlichen selbstbewusst und forsch auf. „Ich weiß ganz gut, was auf uns zukommt“, sagt er. „Wir werden bis in die höchsten Instanzen gehen, wenn es sein muss.“
Dreckige Geschäfte in der Lausitz
Durch das Pariser Klimaabkommen ist der Druck auf die Braunkohleindustrie größer denn je. So hat die Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG) im März 2017 bekannt gegeben, dass sie den Tagebau Jänschwalde Nord aufgibt und die Abbaupläne für Nochten II reduziert. Sechs Dörfer werden nicht abgebaggert – der Widerstand, den Greenpeace seit Jahren in der Region unterstützt, ist erfolgreich. Auch auf anderer Ebene geht Greenpeace gegen die LEAG und deren tschechischen Besitzer EPH vor. Die LEAG ist für die Rekultivierung der Tagebaue verantwortlich und muss dafür Rückstellungen bilden. Als Vattenfall im vergangenen Jahr seine Bergbausparte an EPH verkaufte, überwies der schwedische Konzern 1,7 Milliarden Euro für die spätere Renaturierung der Tagebaue an den Käufer. Doch der Verbleib der Milliarden ist unklar, belegen Greenpeace-Recherchen. Die Folge: Im Falle einer Insolvenz der LEAG könnte die Verantwortung für die Renaturierung nun beim Steuerzahler liegen. Denn die Landesregierung von Brandenburg hat rechtliche Mittel nicht genutzt, um EPH zu verpflichten, „Sicherheitsleistungen“ für die Rekultivierung zu bilden. Diesen Skandal hat Greenpeace im „Update: Schwarzbuch EPH – Bilanz nach 100 Tagen LEAG“ aufgedeckt.
Greenpeace unterstützt die Initiative Pro Pödelwitz. Ende März reparierten Aktivisten zwei denkmalgeschützte Häuser im Dorf. Die MIBRAG hatte Löcher in die Wände gerissen, angeblich, um das genaue Alter der Holzbalken zu bestimmen, und so den Verfall begünstigt.
Zudem pflanzten die Aktivisten gemeinsam mit den Dorfbewohnern auf einer brachliegenden Fläche ein „X“ aus 1000 gelben Osterglocken. Der Widerstand gegen den Kohleabbau und die damit verbundenen globalen Klimaschäden wächst, nicht nur in Pödelwitz. Weltweit protestierten im März Menschen unter dem Motto #BreakFree gegen Kohle und andere fossile Energieträger.
Solidaritätsaktion
Gestalten Sie aus einem Stück Stoff in der Größe einer DinA-4-Seite einen Wimpel, beschriften Sie diesen mit einem Slogan wie „Pödel- witz soll leben“ und schicken Sie ihn an Greenpeace e.V., Hongkongstr. 10, 20457 Hamburg.
#BREAKFREE
Bis das Genehmigungsverfahren abgeschlossen ist und eine erste Entscheidung fällt, ob Pödelwitz abgebaggert wird, werden noch einige Jahre vergehen. Der Optimismus der Gebliebenen ist ungebrochen. „Ich wünsche mir, dass das Dorf wieder zum Leben erweckt wird, dass wieder Leute herziehen“, sagt Thilo Kraneis. „Was wir hier haben, kriegen wir so anderswo nicht wieder.“ Er blickt über seinen Hof, über das Leben, das ihm geblieben ist.