Wie lang der rote Sessel schon mitten im Dünengras steht, weiß Martin Rader nicht. Vielleicht wurde er einst angeschwemmt, als dieser Teil von Scharhörn noch Strand war und die Mitte der Insel dort, wo jetzt nur noch ein paar Pfähle der alten Vogelwärterhütte aus dem Wasser ragen. Jahr für Jahr wandert die Insel ein Stück weiter Richtung Süden. Wind und Gezeiten häufen dort Sand an – und Müll, wie den zerschlissenen Sessel. Er ist jetzt der Lieblingsplatz von drei Sumpfohreulen.
Zusammen mit der Nachbarinsel Nigehörn ist Scharhörn eines der wichtigsten Vogelschutzgebiete Deutschlands. Die Inseln liegen in der höchsten Schutzzone des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer und dienen vielen gefährdeten Vogelarten als Brut- oder Rastplatz. Wattwanderer dürfen das Gebiet nur auf abgesteckten Pfaden betreten, und nur für kurze Zeit, bevor die Flut kommt. Einzig der Vogelwart lebt hier in seinem 15 Quadratmeter kleinen Wohncontainer. Dieses Jahr sind gleich zwei da, Martin Rader und seine Freundin Sandra Dedolf. Sie teilen sich den Job.
Seit den 80er-Jahren führt der Verein Jordsand ein küstenübergreifendes Müllmonitoring durch. Seitdem ist die Menge konstant hoch, trotz des Verbots, Müll ins Meer zu werfen. Und anders als an beliebten Urlaubsstränden harkt auf Scharhörn und Nigehörn, wo die Natur am sensibelsten ist, niemand den Müll weg. Hier wird er für viele Lebewesen zu einer tödlichen Falle. Vögel fressen Plastikteile und verhungern, weil nichts mehr in ihre Mägen passt. Küken strangulieren sich in zerfledderten Fischernetzen, die ihre Eltern zum Nestbau nutzen.
Seit mehr als 75 Jahren betreut der Verein Jordsand die einsame Vogelschutzstation. Von Frühling bis Herbst kommt jedes Jahr ein Freiwilliger oder Praktikant. „Die Nordsee hat eine Spur Exotik“, sagt Martin Rader. Hier kann der 29-jährige Student Vögel wie den Kiebitz bestaunen, den es in Raders Heimat Bayern kaum noch gibt. Vögel beobachten, zählen und Daten notieren, das ist seine Aufgabe. Doch weil immer mehr Abfall die Nordsee und damit die Inseln verdreckt, muss er auch einmal pro Woche auf einem bestimmten Strandabschnitt Müll sammeln – auf immer denselben 100 Metern, um zu dokumentieren, wie viel Abfall jede Woche angespült wird.
Deswegen haben sich Greenpeace und der Verein Jordsand für einen Tag zusammengetan, um sich um das Problem zu kümmern. Für Greenpeace ist die Aktion Teil der internationalen Meeresschutzkampagne – und für den Verein Jordsand die Hilfe für sein Schutzgebiet, das im Müll versinkt.
An einem Septembermorgen rücken 40 Müllsammler mit Bollerwagen und riesigen Müllsäcken an. Mit dabei ist auch Lisa Maria Otte. Die Meeresexpertin von Greenpeace hat schon viel Müll an deutschen Küsten gesehen. Doch was hier liegt, macht sie fassungslos. „Die vielen Kanister, PET-Flaschen, Bojen und Netzreste mitten im abgelegenen Vogelschutzgebiet zeigen das Ausmaß der Verschmutzung“, sagt sie.
„Bei jedem Schritt knackt und knirscht es. Du siehst den Müll teils und spürst ihn, wenn du über das Dünengras gehst.“
Woher der Müll kommt? Ein Blick zum Horizont genügt, um die Frage zu beantworten. Riesige Containerschiffe ziehen vorbei in Richtung Elbe und weiter zum Hamburger Hafen. Es ist vor allem ihr Abfall und der aus der Fischerei, der auf Scharhörn angeschwemmt wird. Doch die Helfer finden auch Luftballonschnüre, Spielzeug und Joghurtbecher. Weltweit gelangen jedes Jahr auch vom Land bis zu 13 Millionen Tonnen Plastik ins Meer. „Der größte Teil davon ist Haushaltsmüll, weil Länder wie China kein vernünftiges Abfallsystem haben“, sagt Otte. In Europa landet aber vor allem Fischereimüll im Meer. Bestraft wird dies nicht – weil Kontrollen fehlen. „Wir fordern von Fischereiminister Christian Schmidt, endlich zu kontrollieren und zu sanktionieren“, sagt Otte.
Am Nachmittag erscheinen in der Ferne die Segelmasten der Beluga II. Der Kapitän lässt das Greenpeace-Schiff kurz vor dem Ufer bei Ebbe „trocken fallen“. Sack für Sack schieben die Müllsammler den Abfall mit den Bollerwagen zum Schiff. Bis in die Abendstunden hieven sie die Säcke mit einem Kran an Bord. Knapp zwei Tonnen Müll sind an diesem Tag zusammengekommen.
Um 21 Uhr verlassen schließlich die letzten Helfer mit Schlauchbooten die Insel. Es ist bereits dunkel, als Martin Rader in den Wohncontainer zurückkehrt. Er ist beeindruckt von dem logistischen Aufwand für die Aktion und setzt auf den Erfolg der Kampagne gegen Plastik im Meer. Denn draußen kommt die Flut – und mit ihr neuer Müll.
Müllsammeln auf Scharhörn
Video zur Aufräumaktion auf Scharhörn
Mikroplastik in deutschen Flüssen
Kunststoffabfall wird im Wasser nur zerrieben, nicht abgebaut. Greenpeace fuhr mit der Beluga II deutsche Flüsse hinunter und nahm mit einem speziellen Mikroplastiksammler Wasserproben. Das Resultat: Alle Flüsse sind belastet. Dass die Partikel wieder in unserer Nahrungskette landen, zeigt eine Greenpeace-Studie: