24. Februar 2022
Der russische Präsident Wladimir Putin startet den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. Noch am selben Tag dringt die russische Armee in die Sperrzone vor und übernimmt die Kontrolle über das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschornobyl (ukrainische Schreibweise). Es herrscht wieder Krieg in Europa. Plötzlich passiert, was undenkbar schien: Selbst Atomstandorte werden angegriffen.
Februar/März 2022
Rund 600 Soldaten heben in der kontaminierten Sperrzone, die die Atomruine in einem Radius von 30 Kilometern umgibt, Schützengräben aus und bauen Unterstände. Immer wieder schlagen in der Nähe des Reaktors, der unter einer 2019 final fertiggestellten Schutzhülle eingeschlossen ist, Geschosse ein. Zeitweilig ist die Stromversorgung der Atomanlage unterbrochen. Erst Ende März ziehen sich die Truppen wieder zurück.
April 2022
Was genau vor Ort geschah, ist in Kriegszeiten schwierig unabhängig zu prüfen. Die Internationale Atomenergieagentur (IAEO) gibt nach Messungen Ende April Entwarnung – sie stellte zwar erhöhte Strahlungswerte fest, stufte diese jedoch als ungefährlich für die Umwelt und die öffentliche Sicherheit ein. Klar ist nur: Rund um das AKW lagern große Mengen radioaktiver Abfälle, die ins Trinkwasser gelangen und die ukrainische Bevölkerung über Jahrzehnte hinaus gefährden könnten. Deshalb beschließt eine Gruppe von Greenpeace-Experten in das Kriegsgebiet zu fahren und die Gefahrenlage zu prüfen. Wochen vergehen, in denen das Greenpeace-Team die Details mit der ukrainischen Regierung abstimmt. Täglich beobachtet es den Kriegsverlauf und warnt vor einer nuklearen Katastrophe, da immer wieder Geschosse in der Nähe der insgesamt 15 sich im Betrieb befindenden ukrainischen Atomreaktoren einschlagen. Inzwischen ist allen bewusst: Atomkraftwerke, auch abgeschaltete, sind und bleiben eine große Gefahr – in Friedens-, erst recht aber in Kriegszeiten.
„Mehr als 60 Greenpeacerinnen und Greenpeacer aus aller Welt haben die Recherche monatelang vorbereitet. Vor der Abfahrt bekam das erfahrene Team ein Sicherheitstraining für Kriegseinsätze. Mit zwei Transportern voller Ausrüstung brauchten wir von Hamburg bis Tschornobyl rund 40 Stunden.“
Shaun Burnie, Atomexperte von Greenpeace
Anfang Juli 2022
Endlich liegt die Genehmigung der ukrainischen Regierung auf dem Tisch. Das international besetzte, 13-köpfige Team unter der Leitung von Greenpeace Deutschland macht sich bereit. Jeden Tag fürchten sie die Absage, weil das Risiko im Kriegsgebiet zu hoch sein könnte. Doch am 8. Juli geht es endlich los. An Bord haben sie ein mobiles Labor, eine eigens für den Einsatz konstruierte Drohne, unzählige Messgeräte und Schutzausrüstung aller Art.
15. – 18. Juli 2022
Für die erste unabhängige Untersuchung innerhalb des Sperrgebiets seit Kriegsbeginn haben die Greenpeace-Experten aus Sicherheitsgründen nur vier Tage Zeit. Sie schlüpfen in Gummistiefel und Schutzanzüge, setzen Masken und Schutzbrillen auf. An vielen Stellen rund um verlassene Militärposten nehmen sie Bodenproben, die zunächst in einem mobilen Labor analysiert werden. Weil die russische Armee große Teile des Geländes vermint hat, ist es nur schwer zugänglich. Die Experten behelfen sich mit bis zu sechs Meter langen Stangen, um größere Flächen scannen zu können.
Mithilfe von Drohnen messen sie die Strahlenbelastung aus zehn und aus hundert Metern Höhe. Zudem dokumentiert das Team weitere Schäden: Russische Soldaten zertrümmerten Computer, plünderten ein Labor und zerstörten eine Datenbank mit wichtigen Informationen zur radioaktiven Belastung. Thomas Breuer, Atom- und Sicherheitsexperte von Greenpeace, der den Einsatz leitet, schüttelt ob der Verwüstung den Kopf. Sein Kollege Jan Vande Putte fasst all das, was das russische Militär in und rund um das AKW Tschornobyl angerichtet hat,
in einen Satz: „Das ist ein Verbrechen gegen die Umwelt.“
„Vor Ort warnten uns ukrainische Behörden vor Minen und Sprengfallen. In der Sperrzone war nur ein kleines Areal zugänglich. Ich bin jetzt schon zum dritten Mal in Tschornobyl, aber so bedrückend war es noch nie. Die Investigation war riskant, aber wer, wenn nicht Greenpeace kann so eine unab-hängige Untersuchung realisieren? Zurück in Kyjiw war die Gefahr nicht vorbei: Bei Luftalarmen verbrachten wir etliche Stunden im Badezimmer – mit Sicherheitsweste und Helm.“
Shaun Burnie, Atomexperte von Greenpeace
20. Juli 2022
Zusammen mit ukrainischen Experten lädt Greenpeace in Kyjiw zur Pressekonferenz. „Wir haben bis zu 45.000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm gemessen. Dieser Wert überschreitet internationale Freigrenzen für Atommüll deutlich“, sagt Shaun Burnie, langjähriger Greenpeace-Atomexperte. Mit Blick auf die Internationale Atomenergieagentur fügt er hinzu: „Der Höchstwert, den wir gemessen haben, ist dreimal so hoch wie die Messungen der IAEO.“ Für Greenpeace ist damit klar, dass die IAEO die Situation rund um Tschornobyl verharmlost. „Nichts ist hier normal“, sagt Jan Vande Putte, „Teile der Sperrzone sind Atommüll.“ Warum die IAEO Fakten ignoriert und verdreht? Ihr stellvertretender Direktor hat beste Beziehungen zu Rosatom – Michail Tschudakow war jahrelang beim staatseigenen russischen Atomkonzern beschäftigt. Damit die IAEO glaubwürdig bleibt, muss sie von einer Agentur zur Verbreitung von Atomkraft zu einer Überwachungsbehörde umgebaut werden, fordert Greenpeace.
Von einer Abkehr der Atomkraft ist in Europa im Herbst 2022 – trotz all der deutlich zutage getretenen Risiken – wenig zu spüren: In Deutschland weicht die Regierung gerade den Atomausstieg auf. Und die EU-Kommission hat Atomenergie in ihrer Taxonomie trotz massiver Proteste jüngst als nachhaltig eingestuft. Dagegen leitet Greenpeace jetzt juristische Schritte ein (siehe Seite 16).
In der Ukraine geht der Krieg unterdessen unvermindert weiter. Immer wieder steht auch Saporischschja, das größte Atomkraftwerk Europas, unter Beschuss. UN-Generalsekretär António Guterres mahnt: „Ein militärischer Angriff auf eine Atomanlage ist selbstmörderisch.“ Atomkraftwerke müssen zu entmilitarisierten Zonen werden, fordert Thomas Breuer. Und fügt mit Blick auf Deutschland hinzu: „Tschornobyl und Saporischschja mahnen uns noch einmal besonders, am Atomausstieg festzuhalten.“
Die Investigativrecherche des Greenpeace-Teams nach Tschornobyl hat die Umweltstiftung Greenpeace mit fast 75.000 Euro mit ermöglicht.
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Weitere Informationen und Hintergründe zur Investigativrecherche finden Sie unter:
Mehr Zur Energiedebatte
Informationen zur Sicherheitslage der Atomkraftwerke in der Ukraine und zur Atomdebatte in Deutschland sowie die jeweiligen Positionen und Einordnungen von Greenpeace dazu finden Sie unter greenpeace.de
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