Kipppunkte, Artensterben und Biodiversitätskrise – wie hängt das eigentlich alles zusammen? Und kann man die globalen Auswirkungen eines kippenden Klimas sehen? Mit der Recherche-Reise grad.jetzt machen sich Naturfotograf Markus Mauthe und Journalistin Louisa Schneider auf den Weg in verschiedene Regionen der Welt um die Tragweite der Klimakrise und die Konsequenzen für Menschen und Biodiversität sichtbar zu machen. Denn wir alle reden ständig über Klima, Artensterben und Kipppunkte. Aber was genau damit gemeint ist, das bleibt oft abstrakt und theoretisch. Dabei zeigen sich die Auswirkungen der Klimakrise bereits sehr konkret.
Natürliche Ökosysteme können Veränderungen nur begrenzt auffangen – eben bis zu einem bestimmten Grad, dann kippen sie. Sind die sogenannten Kipppunkte erst einmal überschritten, gibt es kein Zurück. Im Gegenteil: Klimaforscher:innen gehen davon aus, dass viele Prozesse sogar noch schneller ablaufen, wenn sie einmal in Gang gesetzt wurden. Wie kann man diese Ausmaße also greifbar machen?
Unterwegs mit grad.jetzt – Sechs Regionen und Kipppunkte unserer Erde
Im Rahmen des Projekts grad.jetzt besucht das Team um Louisa Schneider und Markus Mauthe sechs verschiedene Regionen der Welt. Regionen, die bedroht sind, weil sie Kippelemente des Klimas darstellen. Diese Regionen sind: der Amazonas-Regenwald in Brasilien, Bangladesch, Senegal, die nördlichen Borealen Wälder und die Tundra Kanadas, die tropischen Korallenriffe des Pazifiks, Grönland und der arktische Ozean. Sollten diese Kipppunkte überschritten werden, gefährden sie nicht nur regional, sondern weltweit das langfristige Überleben der Menschheit und einen großen Teil der Artenvielfalt.
Auf Instagram können wir den Expeditionen des Projektes folgen. Mit Ihren Bildern und Videos berichten Markus und Louisa ganz persönlich über die aktuelle Lage der Regionen als auch über die direkten Auswirkungen auf die Betroffenen, die Flora und die Fauna. Sie zeigen, welche Naturschönheiten noch existieren – und welche schon zerstört wurden. Sie sprechen mit den Menschen vor Ort, die von den Veränderungen in einem ungerechten Maß bedroht sind. Gemeinsam diskutieren sie über ihren Aktivismus, ihre Hoffnungen und ihre Ideen dazu, wie wir unseren Planeten schützen können.
Vor kurzem sind Markus und Louisa aus Senegal zurückgekehrt. Senegal bietet noch immer wundervolle, artenreiche, intakte Natur. Beispiele hierfür sind der Djoudj-Nationalpark oder der Sine-Saloum-Nationalpark. Doch an vielen Orten sind die Ökosysteme auch in akuter Gefahr. Erhöht sich infolge der Erderwärmung die Meerestemperatur, setzt zum Beispiel der Sahel-Monsun später ein und fällt schwächer aus. Diese Dürreperioden gefährden die Mangroven. Seit den 1970er-Jahren ist ihr Bestand, laut UN-Angaben, auf Grund dieser vom Klimawandel bedingten Dürreperioden um 40 Prozent zurückgegangen. Aber auch Ackerbau und Viehzucht sind gefährdet in dieser Region, in der die Bevölkerung überwiegend von der Landwirtschaft lebt. In der Küstenregion St. Louis beeinflusst hingegen der steigenden Meeresspiegel, der Raubbau an den Meeren und die Gasförderung, die Ökosysteme und das Leben der Menschen.
All dies hat unser Team in Senegal erlebt. Hier teilt Louisa Schneider ihre ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse. Dies ist Ihre Geschichte.
Wir standen auf offener Straße in Dakar, der Hauptstadt Senegals. Es war kurz nach Sonnenuntergang und die Gassen tauchten langsam in die Dunkelheit ein. Mein Kollege Nick filmte und ich sicherte ihn. Plötzlich ruckelt es an meinem Rucksack. Ich fuhr blitzartig herum und schaute auf einmal drei Kindern ins Gesicht. Mit strahlendem Lächeln machten sie mich darauf aufmerksam, dass mein Rucksack offen war, sie ihn für mich gerade geschlossen haben, und hielten mir eine Dattel hin. Etwas perplex nahm ich das Essen an, bedankte mich mit gebrochenem Französisch, checkte aber trotzdem, ob alles noch in meinem Rucksack war. Es fehlte nichts. Erfahrungen wie diese machte ich immer wieder auf unserer Reise durch Senegal.
Teraanga – die Kunst des Miteinanders
Senegal ist auch bekannt als das „Land des Teraanga“. Das Wort bedeutet in der Landessprache Wolof auch Gastfreundschaft – dabei ist das wirklich zu kurz gegriffen. Eigentlich ist es eine Lebensweise.
Als wir mit unserem Team weiter durch Senegal reisten und immer mehr Menschen begegneten, habe ich schnell festgestellt, dass diese Lebenseinstellung in ganz vielen Aspekten des täglichen Lebens hier wiederzufinden ist. Teraanga unterstreicht Offenheit, Toleranz und Großzügigkeit in allen Begegnungen – vor allem mit Fremden. So entsteht eine Kultur, wo nichts mehr fremd ist. Indem man sich allen gegenüber großzügig verhält, unabhängig von Nationalität, Aussehen, Religion oder Klasse, entsteht das Gefühl, dass jeder sicher und willkommen ist.
Wo alles begann: Kolonialismus und Klimakrise
Wir kommen in Saint-Louis an. Kaum über die große Brücke, die zwei Halbinseln verbindet, passieren wir den alten Sklavenfort der Stadt. Saint-Louis ist Weltkulturerbe und war einer der Schlüsselorte der französischen Kolonialisierung. Hier errichteten sie 1659 ihre erste Siedlung in der Region und gründeten ihre Hauptstadt. Von hier aus wurden Millionen versklavter Menschen überall in die Welt deportiert. Viel zu lange wusste ich selbst nicht, was Kolonialisierung und Ausbeutung mit der Klimakrise zu tun haben – dabei sind sie essentiell.
Denn die systematische Ausbeutung von Mensch und Natur nahm damals mit dem europäischen Kolonialismus ihren Anfang. In seiner Folge wurden Millionen von Menschen vertrieben, versklavt und ermordet; gleichzeitig wurden ganze Ökosysteme ausgebeutet und zerstört. Diese Ausbeutung bildete das Fundament für den heutigen globalen Kapitalismus. Es zeigt sich, wie sehr die damals geschaffenen globalen Machtverhältnisse bis heute Folgen haben, wie sehr sie mit vielem auf der Welt zusammenhängen, was falsch läuft – von Klimakrise bis Rassismus.
Wenn wir die koloniale Ebene der Klimakrise betrachten, wird klar, dass der menschengemachte Klimawandel eben nicht von allen Menschen gleichermaßen verursacht wurde, sondern von Menschen des globalen Nordens, die sich auf Kosten von Menschen und Natur im Globalen Süden bereichert haben und dies bis heute tun. Im Ergebnis sind die 19 Prozent der Weltbevölkerung im Globalen Norden für 92 Prozent der weltweiten CO2 Emissionen verantwortlich, die restliche Weltbevölkerung für die letzten 8 Prozent. Die gegenwärtige Klimakrise, dessen Auswirkungen vor allem in Ländern des globalen Südens bereits am heftigsten zu spüren sind, ist auch das Ergebnis über 500-jähriger kolonialer Praxis.
Neokolonialismus in Senegal
Wir filmen eine eingestürzte Schule an der Küste Saint-Louis. Das Wasser hat sie niedergerissen. Durch die rasante Erderhitzung steigt der Meeresspiegel hier schnell an und frisst das Land auf. Häuser in Küstenregionen müssen weichen, Menschen rücken ins Landesinnere.
Während wir die Schule betrachten, tippt mir ein alter Mann auf meine Schulter. Sein weißer Bart bildet einen starken Kontrast zu seiner schwarzen Haut, auf einem Auge ist er blind. Was wir denn hier filmen würden, fragt er mich sanft, aber bestimmt. Er heißt Massao Mbaye und war sein Leben lang Fischer, jetzt ist er zu alt, um rauszufahren. Ich erklärte ihm, dass wir über die Auswirkungen der Klimakrise hier vor Ort berichten. Er riss die Augenbrauen hoch. „Wir können keinen Sand essen! Sag das den Menschen da draußen!“ Er erklärte, dass die kleinen lokalen Fischer hier immer weniger Fisch fangen. Große Industrieboote aus China, Russland und Europa fischen ihre Meere leer und entziehen den Familien an den Küsten die Lebensgrundlage. Mit den gigantischen Schleppnetzen der Trawler können sie nicht mithalten.
Tatsächlich fördert die EU „die nachhaltige Fischerei“ in Senegal mit 2,5 Millionen Euro im Jahr. Im Gegenzug bekommen europäische Industrieschiffe umfängliche Fangrechte eingeräumt. Ist das nicht so, als würde das Haus deines Nachbarn oder deiner Nachbarin brennen, und du würdest ihm „zur Reparatur“ Geld geben, nur um dann nochmal Benzin darauf zu schütten?
„Und schau, da hinten!“, er zeigt auf eine Gasplattform mitten im Meer, die man durch die Gischt in der Luft nur erahnen kann. „Wohin geht das Geld dafür? Wir bekommen davon nichts. Wir sehen nur, dass auch dadurch immer weniger Fische hier sind.“
Auch da haben unter anderen die europäischen Mächte, wie Deutschland, ihre Finger im Spiel. Statt die vor Ort reichlich vorhandene Sonnen- und Windenergie zu nutzen, werden fossile Projekte vorangetrieben und vor allem neue Gasfelder erschlossen. Auch unsere Bundesregierung hat ihre Unterstützung zugesagt, obwohl Deutschland dieses zusätzliche Gas gar nicht bräuchte, würden wir endlich konsequent und schnellstmöglich auf erneuerbare Energien umsteigen. Die Infrastruktur, die hier für den Gasexport entsteht, könnte bis in die 2060er Jahre bestehen bleiben. Damit: Viel zu lange, um die Klimakrise zu bewältigen. Auch haben die Vorhaben und laufenden Projekte katastrophale Folgen für die Artenvielfalt. Die örtlichen Kaltwasserkorallenriffe, die Brutstätten für viele Fische, werden zerstört und Massao , seine Kollegen und ihre Familien verlieren ihre Lebensgrundlage. Sie haben keine Wahl. Fisch ist ihr Leben. Ihre Nahrung. Ihre Existenz.
Teraanga als Widerstand
Massao und ich schauen aufs offene Meer hinaus. Die Sonne zeigt ihre letzten Strahlen. Ich wende mich ab, will nicht, dass Massao meine Tränen sieht. Er legt seinen Arm um meine Schultern und lädt das ganze Team zu sich nach Hause ein. Auf uns wartete bereits eine kleine Familie mit einer großen Schüssel voll Essen, mit Reis, verschiedenem Gemüse und Fisch. In vielen senegalesischen Familien wird beim Kochen schon daran gedacht, mehr Essen vorzubereiten, für den Fall, dass jemand dazustößt. Das können bekannte oder unbekannte Menschen sein. Diese Einstellung sorgt für ein harmonisches Zusammenleben. Moussah sagt, sie glauben von Herzen an das Motto: “Je mehr du gibst, desto mehr bekommst du zurück.” Und weil den Menschen in Senegal während der Kolonialzeit so viel genommen wurde und auch heute noch so viel genommen wird, zelebrieren sie Teraanga umso mehr: Sie feiern ihre Kultur, ihre Sitten, die Gemeinschaft und den Akt des Gebens. Radikale Güte als Akt des Widerstandes, sozusagen.
Der Ausbau der Öl- und Gasinfrastruktur ist der falsche Weg. Er zementiert Abhängigkeiten – neue Gasförderanlagen sind auf jahrzehntelangen Betrieb ausgelegt.
Ebenso fatal: Alles Geld, was jetzt in fossile Infrastruktur fließt, fehlt für den dringend notwendigen heimischen und weltweiten Ausbau der Erneuerbaren. Nur ein Energiesystem, das auf Sonne, Wind und Erdwärme setzt und dezentral und smart aufgebaut ist, ist zukunftsweisend.