Es hätte ein ruhiger Dienstagabend werden können für Jürgen Knirsch. Er hätte das Konzert einer netten kleinen Band besucht, mit Freunden etwas getrunken und geplaudert. All das fiel aus. Stattdessen geriet dieser Tag im April zum Auftakt einiger stressiger und zugleich aufregender Wochen im Arbeitsleben des Greenpeacers. Knirsch koordiniert seit Ende 2014 die fachliche Arbeit der Umweltschutzorganisation zur Handelspolitik in Europa. Einen großen Teil seiner Zeit beschäftigt er sich mit den komplizierten und vor allem streng geheimen Verhandlungen zu TTIP, dem umstrittenen Handelsabkommen zwischen Europa und den USA.Wie viele andere Kritiker fürchtet auch er um die europäischen Umwelt- und Verbraucherstandards. Und wie alle anderen muss er sich stets die Beschwichtigungen der Politiker vorhalten lassen, dass diese nicht in Gefahr seien. Entsprechend elektrisiert reagiert Knirsch auf den Anruf seiner Kollegen. Greenpeace seien originale TTIP-Verhandlungstexte zugespielt worden, sagen sie. Keine Entwürfe oder kleine Ausschnitte, wie sie seit Beginn der Verhandlungen vor fast drei Jahren wenige Male an die Öffentlichkeit gelangten.
Nein, die Rede ist von ganzen Kapiteln, die den aktuellen Verhandlungsstand abbilden.
Papiere also, die gehütet werden wie wertvolle Schätze. Texte, die nach dem Willen der Politik nur sehr wenige Menschen unter Aufsicht und sehr strengen Auflagen lesen sollen und über die sie anschließend mit niemanden sprechen dürfen.
Schlüssel zum Verborgenen
Alles sieht danach aus, denkt Knirsch, dass Greenpeace den Schlüssel zu einer Tür in Händen hält, hinter der bislang sehr Wenige über die Zukunft von sehr Vielen entscheiden. Kaum einer der gut 800 Millionen Menschen in den USA und der EU weiß, was sich hinter TTIP wirklich verbirgt. Eine skandalöse Geheimnistuerei, findet Knirsch. Mit diesen Papieren könnte sie enden und endlich eine demokratische Diskussion auf Basis von Fakten beginnen. Viele Fragen rauschen ihm durch den Kopf: Sind die Papiere echt? Gibt ihr Inhalt überhaupt etwas her? Wie können sie veröffentlicht werden? Und vor allem: Wie schützt man die Quelle, die mit der Weitergabe der Dokumente ein hohes Risiko eingegangen ist? Antworten auf diese und andere Fragen zu finden und sie umzusetzen, das hält das TTIP-Leaks-Team fast rund um die Uhr beschäftigt. Schnell fällt auf: Die Dokumente enthalten auffällige Fehler, ungewöhnliche Schreibweisen und layouterische Besonderheiten.
„Wir mussten vermuten, dass diese kleinen Indizien zurück zur Quelle verfolgt werden könnten. Das wollten wir natürlich unbedingt verhindern“
Alle Dokumente, etwa 250 Seiten, werden neu abgetippt, um die Quelle zu schützen – unter Zeitdruck und höchster Verschwiegenheit. Was ebenfalls klar wird: Greenpeace kann dieses Material nicht allein veröffentlichen. „Bislang geheime Texte sind in der Debatte nur dann etwas wert, wenn ihre Echtheit nicht angezweifelt werden kann“, sagt Knirsch. „Wir brauchten also eine unabhängige und glaubwürdige Bestätigung.“ Die erhielt das internationale TTIP-Leaks-Team über den Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Journalisten der drei Redaktionen prüften das Material, holten eigene Erkundigungen ein – und befanden die Texte für echt. Dann machten sie sich an die Interpretation.
BEFÜRCHTUNGEN BESTÄTIGT
Auch bei Greenpeace läuft die Textanalyse ab der letzten Aprilwoche auf Hochtouren. TTIP-Experten aus verschiedenen Greenpeace-Büros sind zusammengekommen, brüten über den sperrigen, schwer verständlichen englischen Texten – und sehen viele ihrer Befürchtungen bestätigt. Beispielsweise taucht das in Europa bislang geltende Vorsorgeprinzip, zentraler Baustein für wirksamen Verbraucherschutz, in den Texten gar nicht mehr auf. Die Industrie soll maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Abkommens erhalten, und von europäischen Umweltschützern mühsam erkämpfte EU-Standards könnten als Handelshemmnisse deklariert und aus dem Weg geräumt werden.
DER COUP UND DER CONTAINER
Die Zeit drängt. Es sind nur noch wenige Tage bis zum 2. Mai. An diesem Montag startet in Berlin die internationale Kommunikationskonferenz re:publica. Ein Pflichttermin für Web- und Medienexperten – und ein passender Rahmen für TTIP-Leaks. Greenpeace bekommt am Vormittag einen der ersten Termine für eine Pressekonferenz. Weit vor Beginn sind die 400 Plätze besetzt, die erste Reihe bildet eine Front aus TV-Kameras. Denn schon am Vorabend hatte die Tagesschau den Coup in einer Topmeldung angekündigt.
„Die Veröffentlichung ist ein Dienst an der Demokratie.”
Während Jürgen Knirsch und zwei seiner Greenpeace-Kollegen auf der Bühne der re:publica über den Inhalt der Dokumente sprechen, rollt wenige Kilometer weiter ein gläserner Container mit acht Exemplaren des Verhandlungstextes vor das Brandenburger Tor. „TTIP-Lesesaal“ steht darauf, ein Seitenhieb auf den gut gesicherten Raum im Wirtschaftsministerium, in dem angemeldete Parlamentarier maximal zwei Stunden den Verhandlungstext einsehen dürfen. Den Greenpeace-Leseraum kann nutzen wer will, so lange er oder sie möchte.
TTIP Bildergalerie
Das Echo ist enorm. Selbst prominente Politiker wie Christian Ströbele oder die Grünen-Vorsitzende Simone Peter nutzen die Chance, die Dokumente einzusehen. Da sie keinen Sitz im Bundestag innehat, wurde ihr bislang der Zugang zu den offiziellen TTIP-Unterlagen verwehrt. Die Grünen-Chefin verweilt gut zwei Stunden im Greenpeace-Leseraum und sagt: „Die Veröffentlichung ist ein Dienst an der Demokratie.“