Eine bessere Chance, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu retten, wird es nicht mehr geben“, sagt Thilo Maack, Experte für Biodiversität bei Greenpeace, mit Blick auf das Frühjahr 2022. Tatsächlich könnte die Weltgemeinschaft bei der Biodiversitätskonvention und beim UN-Hochseeschutzabkommen Rettungspläne beschließen. Dafür ist es höchste Zeit, denn das große Massensterben ist in vollem Gang:
Weltweit verschwinden jeden Tag rund 150 Tier- und Pflanzenarten – für immer. Der Weltbiodiversitätsrat geht davon aus, dass etwa eine Million der geschätzten acht Millionen Arten auf der Welt akut vom Aussterben bedroht ist. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte weltweit jede sechste Art ausgestorben sein.
Verantwortlich für dieses Umweltverbrechen sind wir Menschen. Genauso wie für die Erderhitzung, die das Artensterben zusätzlich befeuert: Höhere Temperaturen sowie Wetterextreme zerstören Ökosysteme und Lebensräume. Geschädigte Ökosysteme wiederum können nicht mehr so viel CO2 aufnehmen. Beide globale Krisen beschleunigen sich gegenseitig und schneller als je zuvor.
Bedrohte Tiere im Porträt
In welcher Beziehung stehen Mensch und Tier? Diese Frage spiegelt sich in allen Bildern des preisgekrönten Fotografen Tim Flach. Seine außergewöhnliche Bildsprache zeigt die Schönheit und den besonderen Charakter der bedrohten Tiere dieser Welt – und berührt uns Menschen in der Seele. Die Fotos stammen aus seiner Arbeit „Emergency“ zum Thema Artenvielfalt. Unser Titelcover zeigt in Japan aufgenommene Glühwürmchen.
Was ist unter Biodiversität zu verstehen?
Biodiversität und Artenvielfalt werden oft gleichgesetzt, doch der Begriff Biodiversität umfasst viel mehr: die Vielfalt der Ökosysteme, die Artenvielfalt und die genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Jedes Ökosystem ist durch das komplexe Zusammenspiel seiner Arten, die alle eine besondere Funktion erfüllen, fein austariert und einzigartig. Verändert sich ein Bestandteil, verändert sich das ganze System. Die genetische Vielfalt ist Voraussetzung für die Anpassungsfähigkeit der Lebewesen an sich verändernde Umweltbedingungen wie Hitze, Frost, Trockenheit oder Krankheitserreger.
Warum brauchen wir Biodiversität?
Die biologische Vielfalt umfasst alles Leben auf der Erde, ihre mannigfaltigen Ökosystemdienstleistungen sichern unser Überleben: Bienen bestäuben Obstbäume und andere Blütenpflanzen wie etwa Raps. Intakte Meere und Wälder regulieren das Klima, speichern Kohlendioxid und produzieren Sauerstoff. Korallenriffe und Mangroven schützen Küstenbereiche vor schweren Stürmen, Feuchtgebiete verringern das Überschwemmungsrisiko. Andere Lebensräume liefern medizinische Wirkstoffe oder dienen als Erholungsorte. Ohne Biodiversität gäbe es kein Leben.
Wodurch ist die Lebensvielfalt bedroht?
Der massive Arten- und Lebensraumverlust ist das Ergebnis verfehlter nationaler und internationaler Wirtschafts-, Agrar- und Handelspolitik. Die fünf Hauptursachen sind:
Zerstörung von Lebensraum
Jahr für Jahr werden tropische Regenwälder und andere natürliche Ökosysteme zerstört, weil dort Rinder- weiden oder riesige Plantagen mit Ölpalmen oder Sojafelder angelegt werden sollen. Intensiv betriebene Landwirtschaft, starke Düngung und Pestizide vernichten Wildkräuter, Insekten und Rückzugsflächen. In den Meeren führen die zusätzlichen Nährstoffe zu sauerstoffarmen Todeszonen. Zudem versiegeln wir Flächen und zerschneiden Lebensräume mit Straßen, Siedlungen oder Gewerbegebieten, und begradigte Flüsse zerstören Auenlandschaften.
Direkte Ausbeutung
Durch Überfischung und Wilderei dezimieren wir Populationen und bringen sie – wie gerade beim Ostseedorsch – an den Rand des Zusammenbruchs.
Umweltverschmutzung
Ein großer Teil unseres Plastikmülls landet in den Ozeanen. Viele Meeresbewohner verenden, weil sie Plastik mit Nahrung verwechseln. Andere ertrinken, weil sie sich in Geister-netzen verheddern.
Erderhitzung
Viele Tiere und Pflanzen versuchen, vor der Erwärmung der Luft und der Meere in kühlere Habitate auszuweichen. Für all jene, die schon in großen Höhen oder in Polregionen leben, gibt es jedoch kein Entkommen. Andere, wie etwa riffbildende Korallen, können nicht oder nicht schnell genug „fliehen“, sie gehören zu den Opfern der Klimakrise.
Invasive Arten
Auch eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten beschleunigen das Artensterben massiv. Da die gebietsfremden Spezies häufig keine natürlichen Fressfeinde haben, verdrängen oder vernichten sie heimische Populationen.
Wie kann der Reichtum erhalten werden?
Biodiversitätsschutz muss in allen Politikfeldern mitgedacht werden. Konkret müssen die Regierungen der Welt bis spätestens 2030 mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen als geschützte Gebiete ohne menschliche Zerstörung ausweisen. Wichtig ist dabei, die Rechte der indigenen und lokalen Bevölkerung zu wahren. Es braucht ein Ende der Überfischung und der zerstörerischen Fischereimethoden, Sand- und Kiesabbau sowie ein Moratorium für Tiefseebergbau (siehe Protestpostkarte in der Heftmitte). Renaturierte Moore, weniger Flächenfraß und Ressourcenverbrauch schützen die Biodiversität.
Unumgänglich ist die ökologische Umgestaltung der Land- und Forstwirtschaft: Statt Raubbau und Ausbeutung sollten biodiversitätsfördernde Leistungen der Landwirtschaft finanziell honoriert werden. Außerdem darf es in streng schützenswerten Wäldern keine Holzeinschläge geben (siehe unten). Indigene und lokale Gemeinschaften, die im Natur- und Artenschutz eine Schlüsselrolle spielen, müssen mitentscheiden. Und Deutschland muss den Beitrag zum globalen Naturschutz auf mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr erhöhen, um zum Beispiel die Ausbreitung der Wüsten in Asien zu stoppen oder Schutzgebietsnetzwerke im Süden Amerikas zu verwirklichen. In einem Satz zeigt Thilo Maack den Weg nach vorne auf: „Die Zwillingskrisen Erderhitzung und Artenschwund können wir nur gemeinsam bewältigen – durch eine grundlegende Transformation der Gesellschaft.“
Wald in Deutschland
„Wir brauchen echte Schutzgebiete“
Fast 90 Prozent der Wälder in Deutschland befinden sich in einem schlechten Zustand. Viele der aktuell gefährdeten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind auf naturnahe Wälder angewiesen. Davon gibt es in Deutschland viel zu wenige, zudem sind diese nicht ausreichend geschützt.
Eine aktuelle Greenpeace-Studie belegt, dass 67 Prozent der Wälder in Schutzgebieten liegen, aber nur 2,8 Prozent der Waldgebiete tatsächlich vor der Säge sicher sind. Dabei wären in Deutschland mindestens 15 Prozent der Wälder streng schützenswert – und strenger Schutz ist dringend notwendig. Eine weitere, auf Satellitendaten gestützte Studie belegt dies eindrücklich: Wird in nicht streng geschützten Schutzgebieten – wie beispielsweise Natura-2000-Flächen – weiterhin intensiv Holz eingeschlagen, sind die Wälder weniger vital und leiden genauso unter Wasserstress wie die Waldbestände außerhalb dieser Gebiete. „Wir brauchen echte Schutzgebiete“, sagt Sandra Hieke, Waldexpertin bei Greenpeace, „und eine Bundesregierung, die den Wald als lebenswichtiges Ökosystem bewertet und nicht als bloßen Holzproduzenten.“
Bisher – das belegt ein juristisches Gutachten der Rechtsanwältin Cornelia Ziehm, das sie im Auftrag von Greenpeace erstellte – gelten kurzfristige Profite in kommerzieller Fischerei, Forstwirtschaft und konventioneller Landwirtschaft noch immer mehr als Artenschutz und Allgemeinwohl.
EU-Mercosur verhindern
Das geplante EU-Mercosur-Abkommen bedroht die Artenvielfalt. Deshalb haben mehr als 465.000 Menschen die Greenpeace-Petition gegen den klimaschädlichen Vertrag unterschrieben. Ende November übergab Greenpeace-Handelsexperte Jürgen Knirsch symbolisch ein Holzrelief mit der Anzahl der gesammelten Unterschriften an das Wirtschaftsministerium. Die Botschaft der Petition: Deutschland soll sich dafür einsetzen, dass die EU den Vertrag mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay nicht ratifiziert. Das Abkommen würde wie ein Brandbeschleuniger wirken und die Abholzung des Regenwaldes, die Erderhitzung und klimaschädliche Branchen wie Autobau und industrielle Landwirtschaft befeuern.